Wieso in Äthiopien eine neue Protestgeneration die Fundamente des herrschenden Systems in Frage stellt, analysiert Dominic Johnson.
Wenn das Schlagwort von den „afrikanischen Löwen“, die die „asiatischen Tiger“ als Wunderkinder des Wirtschaftswachstums und Vorbilder der Armutsbekämpfung ablösen, irgendwo passt, dann in Äthiopien. Noch zur Jahrtausendwende das zweitärmste Land der Welt, ist Äthiopien heute auf dem Weg zur afrikanischen Wirtschaftsmacht. Mit seinen oft zweistelligen Wachstumsraten entfaltet sich Äthiopien schneller als China oder Indien; in der Wirtschaftsentwicklung steht es heute in etwa da, wo China um 1983 stand, als der große Sprung Richtung Industrienation seinen Anfang nahm. Und anders als andere afrikanische Modellstaaten wie Botswana oder Ruanda ist Äthiopien mit seinen 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern einer der Giganten Afrikas, dessen Erfolg auf eine der unruhigsten und am meisten von Elend geplagten Regionen der Erde positiv ausstrahlen könnte.
Doch seit einigen Monaten macht in Äthiopien nicht die Wirtschaftsentwicklung Schlagzeilen, sondern die politische Konfrontation zwischen einer sehr autoritären Regierung und einer sehr gewaltbereiten Opposition. Seit November 2015 kommt es immer wieder zu regierungsfeindlichen Protesten, die gewaltsam niedergeschlagen werden. Im Sommer weiteten sich die Unruhen aus und ergriffen mehrere Städte. Am 2. Oktober starben nach amtlichen Angaben 52, nach inoffiziellen Berichten über 250 Menschen, als eine Konfrontation zwischen DemonstrantInnen und Sicherheitskräften bei einem Kulturfest in der Stadt Bishoftu (Debre Zeyit) in eine Massenpanik ausartete. Schon im Sommer hatten Menschenrechtsgruppen von über 500 Toten seit November 2015 gesprochen, inzwischen sind es also weit mehr.
Äthiopien
Hauptstadt: Addis Abeba, das auch Sitz der Afrikanischen Union ist.
Fläche: 1.133.380 km2 (rund dreizehnmal so groß wie Österreich)
EinwohnerInnen: Rd. 100 Mio. Über 80 Volksgruppen neben den zwei großen Gruppen Oromo und Amhara u.a. Somalier, Tigray, Sidama, Guragie, Welaita, Hadiya, Afar, Gamo und Sudan-Völker.
Amtssprache: Amharisch
Rang 174 (von 188) des Human Development Index
BIP: 61,5 Mrd. US-Dollar
Landesstruktur: Neun Regionen, Adis Abeba und Dire Dawa mit Sonderstatus.
Politisches System: Bundesrepublik, Staatspräsident Mulatu Teshome Wirtu, Regierungschef Hailemariam Desalegn.
Export: Kaffee, Blumen, Khat. Dammprojekte, allen voran der Grand Renaissance-Damm, sollen Äthiopien zum wichtigsten Stromexporteur der Region werden lassen.
Die Tragödie von Bishoftu provozierte weitere verbreitete Unruhen. Und seit 9. Oktober gilt in Äthiopien ein drakonischer Ausnahmezustand, in dessen Folge innerhalb von fünf Wochen über 11.000 Menschen verhaftet wurden und die Proteste, vorerst, abklangen.
Ausnahmezustand. Im Staatsfernsehen nannte ein Regierungssprecher am 12. November die Zahl von 11.607 Häftlingen, 346 davon Frauen, die in sechs Gefängnissen festgehalten würden. Zu den Anschuldigungen gehörten Vorwürfe wie „bewaffneter Angriff auf Sicherheitskräfte“ und „Tötung von Zivilisten“, aber auch Dinge wie „Behinderung öffentlicher Dienstleistungen“ oder „Störung des Straßenverkehrs“. Viele der Proteste haben sich gezielt gegen Symbole des Wirtschaftsaufschwungs gerichtet: etwa Niederlassungen ausländischer Investoren, die in Äthiopien zu Vorzugsbedingungen operieren dürfen.
Die Löhne sind niedrig, Land bekommt man vom Staat – Land ist in Äthiopien Staatsland, die Bäuerinnen und Bauern haben keine Rechte. Auslöser der Proteste 2015 war ein Vorhaben gewesen, die Grenzen der Hauptstadt Addis Abeba ins Umland hinaus zu erweitern, auf Kosten der umliegenden Region der Oromo-Volksgruppe. Aber am Ende riefen DemonstrantInnen Parolen, mit denen früher der Sturz eines Regimes in Äthiopien eingeläutet wurde. Ist der „Löwenstaat“ Äthiopien am Ende?
Stolze Geschichte. Der Löwe ist das alte Wappentier des äthiopischen Kaiserreiches, das auf eine jahrtausendealte stolze Geschichte zurückblickt, bis in die Antike, in der die Kaiser des Hochlandes der Nilquellen auf die ägyptischen Pharaonen am Flussunterlauf wortwörtlich herabblickten. Der äthiopischen Tradition zufolge zeugte die sagenumwobene äthiopische Königin von Saba mit dem israelischen König Salomon – das Treffen der beiden ist auch in der Bibel überliefert – den ersten äthiopischen Kaiser Menelik, der die Bundeslade mit den Zehn Geboten aus Israel nach Äthiopien nahm, wo sie bis heute aufbewahrt wird.
Äthiopiens letzter Kaiser Haile Selassie, der 1974 von jungen kommunistischen Revolutionären gestürzt wurde, bezeichnete sich als direkter Nachfahre der biblischen Königin.
Die äthiopische Revolution von 1974 war eine Revolution innerhalb der herrschenden Volksgruppe der Amharen, die sich als einzige Herrscherschicht Afrikas erfolgreich der europäischen Eroberung widersetzt hatte und unabhängig geblieben war. Der neue starke Mann nach 1974, Militärdiktator Mengistu Haile Mariam, führte sein Land in schwere Hungersnöte. Gegen ihn erhoben sich anti-amharische Volksgruppen: die Oromo im zentralen Hochland, die Tigray im Norden, die Eritreer im damals noch äthiopisch besetzten Eritrea. 1991 triumphierten sie.
Unter Tigray-Führung marschierte die Guerilla in der Hauptstadt Addis Abeba ein, Mengistu floh nach Simbabwe und in Äthiopien entstand das bis heute herrschende Regime der „Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker“ (EPRDF).
Das EPRDF-System gründet auf einem historischen Kompromiss: Die Tigray-Guerilla TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) übernahm die Macht im Zentralstaat, die Eritrea-Guerilla EPLF (Eritrea-Volksbefreiungsfront) bekam ein unabhängiges Eritrea, und der dritte im Bunde, die Oromo-Guerilla OLF (Oromo-Befreiungsfront) bekam ein System ethnisch definierter Bundesstaaten mit dem Recht auf Sezession.
Die OLF wurde rasch marginalisiert. Und das, obwohl bzw. weil die Oromo die Mehrheit der äthiopischen Bevölkerung ausmachten. Die Oromo-Befreiungsfront ging zurück in den Untergrund, während sich die Tigray- und Eritrea-Führer zerstritten und mörderische Kriege gegeneinander führten. Äthiopien wurde de facto ein TPLF-dominierter Einparteienstaat.
Tod Zenawis. 2012 starb der TPLF- und EPRDF-Befreiungsheld Meles Zenawi, der Äthiopien seit 1991 geführt hatte. Seitdem herrscht politischer Stillstand. Meles’ Nachfolger Hailemariam Desalegn gehört einer kleinen südäthiopischen Volksgruppe an und ist komplett vom Wohlwollen der alten Garde von Tigray-Militärs abhängig. Er hat wenig eigene Gestaltungsmacht; die Staatsführung wird de facto kollektiv ausgeübt.
Die Unruhen seit 2015 beziehen ihre Sprengkraft daraus, dass sie die Grundlage des Herrschaftssystems von 1991 in Frage stellen. Die damals entmachteten Amharen und die danach marginalisierten Oromos haben sich erstmals gegen die Tigray-Dominanz in Wirtschaft und Politik zusammengeschlossen – eine Verbrüderung des historischen Herrschervolkes mit dem historisch entrechteten Bauernvolk, die noch vor kurzem niemand für möglich gehalten hätte. Die Generation des „historischen Kompromisses“, die 1991 gemeinsam einen neuen Staat gründen wollte, ist tot – eine neue junge Generation, die sich nicht mehr an den Kämpfen vor einem Vierteljahrhundert orientiert, wird aktiv.
Verbote. Der Ausnahmezustand, mit dem die Regierung darauf reagiert, ist erschreckend. In sozialen Medien ist es verboten, über die Lage im Land zu schreiben, ebenso wie ausländische Radiosender mit Programmen in äthiopischen Sprachen zu hören. Kontakt mit Gruppen, die die Regierung als terroristisch definiert, ist verboten. Gespräche mit AusländerInnen über Themen, die Gewalt hervorrufen können, sind verboten. Öffentliche Versammlungen ohne Genehmigung sind verboten. Politische Äußerungen bei öffentlichen Veranstaltungen sind verboten. In weniger als 50 Kilometer Entfernung zu einer Staatsgrenze und weniger als 25 Kilometer Entfernung zu einer Fernstraße sind Feuerwaffen und brennbare Materialien verboten. Zuwiderhandlung wird mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
Einige dieser Maßnahmen sollen mittlerweile gelockert worden sein, aber selbst ohne Ausnahmezustand gelten in Äthiopien drakonische Anti-Terror-Gesetze.
Als Terrorismus definiert das äthiopische Gesetz „die Intention, durch Druck auf die Regierung, Einschüchterung der Öffentlichkeit oder Teilen davon, oder durch Destabilisierung oder Zerstörung der grundlegenden politischen, verfassungsmäßigen, ökonomischen oder sozialen Institutionen des Landes eine politische, religiöse oder ideologische Überzeugung voranzubringen“. Darauf steht die Todesstrafe.
Nicht mehr ruhig. Äthiopien ist traditionell ein stilles Land, aus dem wenig nach außen dringt und wo auch innen wenig öffentliche Debatte stattfindet. Aber die Wucht der Ereignisse der vergangenen Monate bleibt der Außenwelt nicht verborgen, obwohl Äthiopien – einzigartig für ein Land mit dieser Wirtschaftsdynamik – ein staatliches Telefonmonopol behalten hat und der Mobilfunk bis heute weniger Menschen erreicht als irgendwo sonst in Afrika. Die neue kosmopolitische äthiopische Generation, die Glamour und Nationalstolz vor sich her trägt, kann nicht völlig zum Schweigen gebracht werden. Ein Vierteljahrhundert rasanter Aufstieg aus der Armut hat ein selbstbewusstes Volk hervorgebracht. Jetzt setzt der neue „afrikanische Löwe“ Äthiopien an, seine Väter zu fressen.
Dominic Johnson ist Afrika-Redakteur und Leiter des Auslandsressorts der deutschen Tageszeitung taz.
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